Eigentlich wollte ich ja bloß schnell ein Rezept für schwedische Rosinenbrötchen finden. Weil die so viel gegessen werden in den vier schwedischen Krimis von Åsa Larsson, die ich zurzeit von A-Z lese. Ein Teil meiner Seele schwebt dieser Tage über Lappland. Und wenn ich aus dem Fenster schaue, sieht es heute sogar ein klitzeklein bisschen so wie in den Büchern aus, die ich lese. Weiß. Endlich Schnee. Nein, ich habe ihn weder erbeten noch ersehnt. Schnee und Winter mag ich nicht wirklich. Obwohl ich älter werde und wohl schon deshalb langsam Herbst und Winter – besonders auch in mir drin – akzeptieren sollte. Meine Vernunft gibt allerdings zu, dass es gut ist, dass Schnee liegt. Und gut, dass es noch kälter wird. Gut für die Welt. Für die Erde. Für die Tiere. Für die Pflanzen. Besser als der Nebel, als das Grau der letzten Wochen ist Schnee allemal. Besonders die Stille, die er mitbringt, tut mir gut.
Seit Tagen schon fehlt mir die Lust zum Mailen. Ich mag schon gar nicht mehr mein Mailprogramm öffnen. So viele persönliche Mails warten auf Antwort, dass mein schlechtes Gewissen jeden Tag wächst. Ich tue statt dessen fast nichts anderes, als im weltweiten Netz nach meiner Traumwohnung zu suchen. Natürlich schreibe ich dafür viele Mails, doch geht es dabei einzig um mein neues Zuhause und alles, was damit zusammenhängt. Um einen neuen Lebensabschnitt. Um eine neue Ausgangslage. Latente Ungeduld macht sich breit, je näher der Umzug rückt. Zumal ich noch nicht weiß, wohin. Umziehen sei einer der größten Stressfaktoren, heißt es ja immer mal wieder. Die gleichen Forschungen nennen als weiteren größten Stressfaktor die Arbeitssuche. Zwei für eins? Oder verdoppelt sich der Stress sogar, wenn beides – wie bei mir – parallel läuft? Vermutlich schon. Denn finde mal eine Wohnung ohne Stelle! Oder eine Stelle ohne Wohnung! Puh. Dazu im Winter, wo alles durchsichtig, dünnhäutig und zerbrechlich ist. Die Eisschicht ist dünn. Darunter Schatten. Emotionen. Altlasten. Kälte. Angst.
Wenn ich dieser Tage in der virtuellen Welt spazieren gehe und befreundete Blogs besuche, fällt mir eine Art gemeinsamer Tenor auf. Das tiefe E. Dieser warme Ton, der in mir vibriert und türkisblau schwingt. Melancholie. Tiefe. Umfassende Themen wie Gerechtigkeit tragen viele Kleider. Latente Unzufriedenheit über den Zustand der Welt oder des eigenen Lebens. Wut. Schmerz. Empörung.
J. ist in der Stadt gewesen. Ist vom Berg runter gewandert. Hat im Schneegestöber eingekauft. Und ist im Schneegestöber wieder den Berg hochgestiegen. Schwer der Rucksack. Wir könnten locker ein paar Tage überleben, falls wir eingeschneit werden. Auch Holz ist genug da. Wie wir eine kleine Brotzeit teilten, vorhin, erzählte ich, dass meine Gedanken sich zurzeit kaum bündeln lassen. Sobald ich etwas zusammenhängendes schreiben will, frieren meine Ideen ein. Besonders wenn ich Mails oder einen Blogartikel schreiben will. Da sind lauter einzelne Splitter, die kaum zusammenzugehören scheinen. Eiszapfen gleich hängen sie vor meinen Augenfenstern und sind sich einzig darin ähnlich, dass alle aus dem gleichen Element sind. Nicht im Fluss, dafür tief gefroren. Kein Wunder bei der Kälte draußen. Ich lasse es zu.
Zusammenhangslos stehen meine Gedanken herum. Draußen im Schnee. Sie sind wie die Waypoints eines Multicaches, sage ich zu Irgendlink. (((Wegpunkte, liebe Lesende, sind jene Punkte, deren Koordinaten eine Geocacherin in ihr GPS-Gerät eingibt um – manchmal von Station zu Station wie bei einem Multi – einen versteckten Schatz zu finden.))) Ja, wie Waypoints sind meine Gedanken, sage ich. Wie nur kann ich sie verbinden? Sie scheinen nichts miteinander zu tun zu haben.
Streu Salz!, sagt mein hauseigener Hofnarr.
Salz streuen heißt alte Wege finden und neue Wege gehen. Heißt Buchstaben zu Sätzen formieren. Heißt verdichten. Heißt Gedanken zu Ende denken. Heißt Brücken bauen. Konzentration.
Konzentration wie sie Esters Pflegemutter im Buch „Der schwarze Steg“ von Åsa Larsson beim Malen ihrer Bilder praktiziert. Obwohl sie malend die ganze Welt vergisst, ist sie doch zugleich, während sie dank der Farben ihr Innen nach außen kippt, ganz und gar da. Und ganz und gar ganz. Larssons Beschreibung berührt mich. Ich begreife einmal mehr, dass künstlerischer Ausdruck den Menschen eine Notwendigkeit ist, die die Welt in Bildern fühlen, denken, wahrnehmen – ob ihre Ausdrucksmittel nun bildnerisch sind oder sie sich mit Worten ausdrücken, ist dabei einerlei. Kunst ist notwendig, wendet die Not, hilft aus der Starre heraus.
Rebecka Martinsson, die Protagonistin der Krimiserie, ist in Kiruna, im hohen Norden Schwedens aufgewachsen, hat aber lange Jahre fern der Heimat gelebt. Die Zeit in Stockholm hat sie geprägt. Zurück im Norden ist sie sensibel für die Unterschiede zwischen den Menschen im Norden und im Süden. Ihre verstorbene Großmutter, so überlegt sie, würde ihre Freunde in Stockholm nicht verstehen. Ihre Freunde, deren Hände noch nie ein Beil gehalten haben, die dafür im Fitnesscenter Gewichte stemmen. Händen ohne Schwielen. Können diese Menschen überhaupt arbeiten?
Die Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen intellektueller und handwerklicher Lebensweise beschäftigen mich schon eine Weile. Es geht in meinem Kopfkino um Daseinsberechtigung. Um Lebenswert. Ich vergleiche. Ich werte meinen Weg ab. Vorwürfe klingen nach: Kunst kann man nicht essen! Regierungen kürzen ihre Gelder immer zuerst im kulturellen Bereich und bei Dienstleistungen. Doch statt entweder-oder will ich sowohl-als auch leben. Wir brauchen einander, Zellen des gleichen Körpers.
Ich will endlich ganz die sein, die ich bin. Das kann nur ich. Und auf meine Weise Rosinenbrötchen backen auch. Vielleicht morgen.