Kino in meinem Kopf. Zurzeit laufen zwei Filme, die Wort für Wort das Leben schrieb.
Der eine ist der ARD-Film Der Preis der Blue-Jeans aus der Doku-Reihe Billigprodukte und ihre Folgen, den ich vor einigen Tagen gesehen habe. Es geht darin um Jeans und wie diese zum Beispiel im Billigland China produziert werden. Die ersten Eindrücke, die das Filmteam in der ersten chinesischen Fabrik, sind noch knapp erträglich. Obwohl das Stoffzuschneiden und -nähen im Akkord nur unter bedingt menschenwürdigen Bedingungen abläuft. Doch je länger der Film und die Recherchen dauern, desto schlimmer wird es. Die genähten Jeans werden nun mit chemisch fragwürdigen Bleichmitteln behandelt, mit Fräsen kaputtet und mit Sandstrahlern bearbeitet, damit sie auch schön grunge aussehen. Und das in den meisten Fällen mit nur geringem oder gar keinem Schutz für Haut, Lungen und Ohren der Arbeiter und Arbeiterinnen. Bestialischer Lärm. Die befragten Arbeiter und Arbeiterinnen, wobei die Männer bei gleicher Arbeit mehr verdienen als die Frauen, zucken die Achseln. Es könnte schlimmer sein. Ich fühle mich gesund. Man gewöhnt sich daran. Sie bewohnen Löcher, Massenunterkünfte ohne jegliche Privatsphäre. Immer brennt Licht in den Unterkünften, wegen der Schichtwechsel. Dusche? Vergiss es! Zwei Eimer Wasser müssen reichen, um die ganzen Chemikalien abzuwaschen.
Dafür wird jede Jeans im Laufe des ganzen Prozesses ungefähr zwanzig Mal – mit starkem Waschmittel – gewaschen, damit auch ja alle Gifte ausgespült werden. Sonst kann man die Hosen nämlich nicht nach Deutschland liefern. Obwohl Deutschland das bessere Abwassersystem hätte. Das bessere? China hat nicht das schlechtere, China hat gar keins. Die ganzen Färbe- und Bleichmittel fließen, bestensfalls von ein paar Gittern gefiltert, von der Fabrik ins Abwasser. Und von dort ins Meer.
Die Leute wollen nicht mehr viel zahlen für ihre Jeans. Sagt der deutsche Händler. Sagt der chinesische Zwischenhändler. Die Leute wechseln ihre Jeans nach einer Saison. Dennoch muss die Qualität stimmen. Die Konkurrenz ist groß. Der deutsche Händler sagt, dass China handeln müsste. Bessere Arbeitsbedingungen schaffen. Gewässerschutz veranlassen. Wir, sagt er, wir können nichts dafür. Wir richten uns nach dem Markt. Und selbst wenn wir mehr für die Jeans verlangen und China bezahlen, bekommen nicht die FabrikarbeiterInnen mehr Geld. Das verschwindet im Zwischenhandel. Später sagt er, dass, falls China zukünftig mehr Geld wolle, sie halt nach Afrika wechseln müssten. Doppelmoralischer und zynischer geht’s nicht.
Wenn Menschen und Gewässer so schlecht behandelt werden wie in China, wie werden da wohl Tiere gehalten? Ich mag gar nicht dran denken.
Während ich den Film schaue, fällt mir jener Film ein, den Irgendlink neulich geschaut hat – auch auf ARD. Über Amazon, das wir alle kennen und lieben, weil es so schön billig ist, zuverlässig auch, und uns alles liefert, was das Herz begehrt. Wir erfuhren, wie auch in Deutschland und Frankreich Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und leben. Von Zeitarbeitfirmen aus Spanien und andern „armen Ländern“ geködert, um in großen Hallen Material zu verpacken. Bewacht von Sicherheitsdiensten. Untergebracht in Massenunterkünften. So weit weg ist China gar nicht …
Müßig zu sagen, dass wir nichts mehr bei Amazon bestellen.
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Der zweite Kopfkinofilm ist ein selbst gedrehter, selbst erlebter. Nachdem ich gestern Freundin M. (2) zum Bahnhof begleitet hatte, fuhr ich – weil es draußen für ein paar Stunden wie Frühling war – mit dem Rad eine kleine Runde. Ich fühlte mich wohl, ahnte den kommenden Lenz und genoss die Sonne.
Doch wie ich mich auf dem letzten Stück meines Heimweges dem Dorfkindergarten näherte, fielen mir schon von weitem Menschen auf, die dort standen … Und Blumen, die an den Zaun gelehnt waren. Kerzen. Je näher ich kam, desto schrecklicheres schwante mir. Eine Gedenkstätte. Errichtet von Menschen, die eines gestorbenen Menschen gedachten. Kinderschrift auf Briefen und Karten. Mein Herz trommelte wie wild. Ein Kind, hier verunglückt? Eine Frau, die ich um Auskunft bat, bestätigte meinen Verdacht. Ein 5 jähriger Bub sei hier unter den Muldenlastwagen gekommen. Im Krankenhaus sei er einige Stunden später gestorben.
Zehn Sekunden früher über die Straße und er würde noch leben, denke ich. Seine zwei Gschpänli vor ihm hätten es geschafft. Er nicht mehr. Sagt sie.
Ich schiebe das Fahrrad nach Hause. Tränen in den Augen.