Hast du Angst vor dem Virus?
Nun ja, vor dem Virus, respektive davor, die Viruserkrankung selbst zu bekommen, habe ich eigentlich noch immer keine Angst, auch wenn ich hoffe, sie nicht so bald zu bekommen. Weil ich – wie wir alle – eine potentielle Multiplikatorin bin und eine Person treffen könnte, die zur Risikogruppe gehört, versuche ich, so hygienisch wie möglich zu leben. Gesunder Menschenverstand und so.
Wovor ich aber wirklich in den letzten Tagen immer ein bisschen mehr Angst bekommen habe, ist vor der Menschheit.
Mir fiel ein Gespäch ein, dass ich vor etwa zehn Jahren mit dem Liebsten geführt hatte. Es war an einem Wochenende bei ihm, wir hockten am Ofen und philosophierten über die Welt. Ich hatte die These formuliert, dass die Menschen zu Tieren werden und nur an sich selbst und ans eigene Überleben denken würden, sollte es irgendwann hart auf hart kommen. Irgendlink hoffte, dass wir alle aus der Geschichte gelernt hätten und rechnete darum mit einem gewachsenen Solidaritätsbewusstsein. Gerne hätte ich damals seine Hoffnung geteilt, aber mit Hoffen tat ich mich ja schon immer eher schwer.
Dieses Gespräch haben wir wie gesagt vor etwa zehn Jahren geführt. Vor dem ’Erstarken der neuen Rechten’ in vielen westlichen Ländern, aber auch vor dem Erwachen der neuen Willkommenskultur und bevor dieselbe wieder wegpolitisiert wurde. Es war vor der weltweiten Klimakrise und es war vor allem vor dem flächendeckenden Smartphone-Zeitalter. Die Welt war, mit Verlaub, damals noch ein klein bisschen humaner. (Oder vielleicht waren wir auch einfach noch ein bisschen hoffnungsvoller?)
In unserm Gespräch überlegten wir uns verschiedene Krisen-Szenarien und wie wir damit umgehen könnten. Wir sprachen – so erinnere ich mich – vor allem über Kriege, Lebensmittelknappheit und darüber, selbst aus irgendwelchen Gründen flüchten zu müssen. Ich glaube, weder Klimakrise, Erderwärmung noch Pandemien kamen in unseren Überlegungen vor. Warum auch immer. Zwar war ich politisch immer klar positioniert – sprich: rot-grün –, aber damals dachte, las und verfolgte ich deutlich weniger mit, was auf der Welt so alles geschieht und geschehen könnte, als ich es heute tue. Und daran ist definitiv das Handy schuld. Socialmedia. (Ich gestehe, dass ich mir in besonders dünnhäutigen Momenten diese ’Unschuld’ zurückwünsche.)
Wir sprachen damals am Holzofen darüber, was wir tun würden, wenn. Wir sprachen über Humanität und Solidarität.
Heute geschieht das alles unmittelbar vor unser aller Augen. Kriege tobten immer schon, doch gab es noch nie so viele Kriegsherde weltweit wie aktuell. Und auch im Netz herrscht vielerorten Krieg. Im eigenen Land geht der Hass um, er ist alltäglich geworden. Dazu sind wir Zeuginnen und Zeugen einer schon bald nicht mehr aufhaltbaren Klimawandels, der menschliches Leben auf der Erde in wenigen Jahren unerträglich machen wird.
Mittenhinein nun diese Krankheit – ausgelöst durch ein neues Virus –, die aktuell ungefähr zehnmal so viele Todesopfer wie eine normale Grippe fordert. Ja, schlimm, sehr schlimm. Klar. Aber schlimmer, viel schlimmer ist für mich, wie wir mit alldem umgehen. Die Verhältnismäßigkeiten. Oder besser die Unverhältnismäßigkeiten. Wenn ich Richtung Lesbos blicke, wo EU-Beauftragte Menschen erschießen, deren einziges Verbrechen darin besteht, dass sie sich ein Leben in Sicherheit wünschen, wird mir schlecht.
Wie geht Liebe in Zeiten von Corona? Besteht (Selbst-)Liebe in Zeiten von Krisen aller Art darin, Desinkfektionsmittel zu klauen, Vorräte zu hamstern, sich mit dem Verkauf gehamsterter Schutzmasken eine goldene Nase zu verdienen? Ich könnte kotzen. Und schreien. Und um mich schlagen. Das alles macht mich so wütend.
Nein, ich habe keine Angst vor dem Coronavirus, ich habe Angst vor dem Virus Egoismus, gegen den es nie eine Impfung geben wird. Ich habe Angst vor dem Virus Mensch.
Doch wie sagt Irgendlink, der noch immer hofft? »Wenn wir dem leidenden Nächsten so viel Aufmerksamkeit schenkten wie einem Virus und noch ein Schuss Anteilnahme beigäben, könnte die Welt in Ordnung kommen.«
Herzliche Leseempfehlungen:
»Stellen Sie sich vor, Solidarität wäre der allerhöchste gesellschaftliche Wert, und wir wären statt auf Egoismus darauf trainiert, immer die Schwächsten zu schützen. Und – stellen Sie sich vor, das würde nicht alles so wahnsinnig naiv und utopisch klingen. Das wär was.«
-Margarete Stokowski
Quelle: www.spiegel.de
+++
»Die Geschwindigkeit, mit der es ein Virus vom einen Ende der Welt ans andere schafft, gehört zu unserer Zeit. Es gibt keine Mauern, die es aufhalten könnten. In früheren Jahrhunderten passierte das genauso, nur etwas langsamer. Allgemein ist das größte Risiko in solchen Situationen […] ist die Vergiftung des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Beziehungen, die Barbarisierung des zivilen Umgangs.«
-Alessandro Volta
Schulleiter des Mailänder Liceo (übersetzt von Andrea Dernbach)
Quelle: christachorherr.wordpress.com
+++
»In Wahrheit leben wir immer noch wie die Maden auf dem Grabhügel des Verschweigens. Einen Schlussstrich kann man nur dort ziehen, wo Schluss ist. Hier ist aber kein Schluss, weder im Großen noch im Kleinen.«
-Andreas Maier
Quelle: www.zeit.de