1.)
Schon früh bin ich auf die schiefe Bahn geraten. Schon bald hatte ich den Glauben daran verloren, dass mein Leben wirklich so funktionieren kann. Mit diesem sacrosankten Dualismus Arbeit versus Freizeit. Wobei Arbeit ja nicht nur sicheres Einkommen, sondern oder besonders auch Image und Prestige bedeutet.
Nein, nichts gegen Arbeit. Ich arbeite gerne. Ich hatte auch immer tolle Arbeitsstellen. Fast immer, jedenfalls. Kleine Ausnahmen bestätigen bloß die Regel. Ich hatte Glück und ich hatte viele verschiedene Jobs. Vieles arbeitete ich auch, ohne Geld dafür zu bekommen. Sicher mehr für ohne oder wenig als für viel Geld. Und eigentlich arbeite ich immer. Jetzt auch. Arbeit ist ein Synonym für das, was wir tun, um den Geist zu befriedigen, der sich immer neue Dinge ausdenkt. Der sich mit dem, was geschieht, auseinandersetzt.
Ich mag die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit und auch das Feindbild Arbeit, das damit unbewusst in uns lebt, nicht. Ich mag sinnvolle Arbeit und tue mich zugleich schwer damit, Arbeit und Leistung als Beinahe-Synonyme zu betrachten. Ich will der Arbeit ihren schweren Rucksack ausziehen. Arbeit, besonders die richtige Arbeit für mich, ist nicht in er erster Krampf, Last, Kampf und Druck. Auch nicht in erster Linie Leistung. Arbeit muss nicht weh tun um als Arbeit zu gelten. In erster Linie ist sie Erfüllung. Ich erfülle den in mir lebenden Auftrag, das zu tun, was nur ich nur so kann. Nenn es die Erfüllung des Lebensplans – aus wessen Feder das Drehbuch zu diesem Plan auch immer stammen mag. Umgeschrieben wird es eh laufend. Wie sagte Herr S. neulich bei einem Vorstellungsgespräch:
Mir imponiert Ihr Lebenslauf, Frau Sophia. Was Sie alles gemacht und gelernt haben!
Mein Leben ist mir Schule und laufende Entwicklung, sagte ich. Und genau das ist es.
Leider hat es mit der Stelle nicht geklappt, da das Pensum nach oben wachsen könnte und das für mich nicht geht. Die Frage, was für einen Preis ich zu zahlen bereit wäre, um wieder selber meine Brötchen verdienen zu können, habe ich mir eine Nacht lang gestellt. Nein, mehr als 70% (29,4 Wochenstunden bei 42 Wochenstunden) verkaufte Lebenszeit kann ich einfach nicht schaffen. Lieber weniger. Mehr beim besten Willen nicht (den ich dafür allerdings nicht aufbringe). Nicht ohne krank zu werden.
Schon seit dreiundzwanzig Jahren arbeite ich nur noch Teilzeit und ich bin immer – wenn auch oft superknapp – irgendwie über die Runden gekommen. Mein Credo, ich erinnere mich gut, war schon sehr früh: Lieber viel freie Zeit als viel Geld. Mit Geld kann man sich nämlich genau eins nicht kaufen: freie Zeit. Wer immer dem Geld hinterher rennt, verbraucht seine Lebenszeit für die Geldbeschaffung. Momo lässt grüßen.
Die freie Zeit ist mein Reichtum und ich wandle sie in das um, was mir wichtig ist: Ich arbeite an kreativen Projekten, ich hänge ab, lese, schaue gute (und auch mal weniger gute) Filme, pflege Beziehungen – manchmal alles gleichzeitig.
Ich weiß, die meisten Menschen haben keine andere Wahl. Sie würden mit Freuden zusagen. Sie würden nicht zaudern, nicht zögern. Ein guter, sicherer Arbeitsplatz. Ja. Aber nein. Zu viele Neins, die sich mir in den Weg stellen. Solange ich wählen kann.
2.)
Ein bisschen bin ich wie die Hipstamatic-App, wo man – je nach Belichtungsverhältnissen und Motiv, das man fotografieren will – eine individuelle Filter- & Blendenkombination auswählen kann. Es gibt sogar den Zufallsmodus, der durch kurzes Schütteln des iPhones generiert wird.
Ich schüttle mich kurz und schon bin ich kleine Schwester. Oder schräge Tante von mir aus. Nichte auch oder Cousine. In dieser Rolle bin ich oft ein bisschen schusselig, wie damals, als Kind, und stoße schon mal ein Glas um oder so. Keine Ahnung, wie das funktioniert.
Ich schüttle mich erneut und bin Freundin. Mit M., einer Freundin, die ich schon sehr lange kenne, bin ich mehr so und so und mit Freundin C., die ich erst sechs Jahre kenne, mehr so und so. Als würden jeweils andere Teile meines Hirns aktiviert, je nachdem mit wem ich kommuniziere.
Ich schüttle mich von neuem und bin Partnerin. Mit Irgendlink spreche ich zudem in einer Fremdsprache. Meiner ersten, was das Hochdeutsch faktisch tatsächlich für mich ist.
Ich bin mehr als die Summe all dieser Aspekte.
Ich bin ein Farbenkreis.
Ich bin eine Sandburg.
Ich bin ein Fotoalbum.
Und manchmal bin ich mir fremd. Wenn ich mich erzählen höre, stehe ich manchmal neben mir. Sage ich das wirklich? Meine ich, sehe ich das wirklich so? Noch immer? Manchmal stelle ich fest, dass innere Veränderungen sowie veränderte Verhaltens- und Sichtweisen noch nicht in allen Zellen angekommen sind. Updaten ist angesagt. Wäre es doch so einfach wie beim PC.
3.)
Der Sinn des Lebens ist ja der Tod, zitierte der junge Fabio einen nicht genannten Philosophen, als er in der neuen Schweizer Krimiserie Der Bestatter (Folge 4, 28. Minute) einer Schulklasse, seinen Lernberuf des Bestatters nahezubringen versuchte. Der Tod mache den Augenblick zu etwas einmaligen. Ob das nun Punk ist, wie Vanessa, eines der Mädchen dieser Schulklasse sagt, sei dahingestellt.
Die Sinnfrage mal wieder. Sollte es eines Tages für mich eine Art letztes Gericht geben (und falls ja: wer außer mir selbst könnte über mich richten?), wird es nur eine einzige Frage geben: Was hast du getan, um die Welt zu einem lebenswerteren Ort für alle zu machen?
Ob da Schreiben als Antwort wohl gut ankäme?